„Dieses Jahr war tödlich“

Mit einem Bein stützt sich der Bad Salzunger Forstamtsleiter Jörn Uth gegen den Hang unterhalb des Kissels, während sich aus der Ferne die Fahrgeräusche von der B19 mühsam durch das kalte Dezembergrau kämpfen. Vor einem Jahr stand hier noch dichter Fichtenwald. Heute ragen nur noch Stümpfe aus dem Boden, wie abgetrennte Gliedmaßen auf einem Schlachtfeld. Zahllose aufgeklappte Wurzelteller haben klaffende Wunden in den Waldboden gerissen, die aussehen wie Bombentrichter. Stehengeblieben sind nur noch ein paar einsame Birken, die sich durchs Erdreich bohren wie weiß schimmernde Speere, die ihr Ziel verfehlt haben. Das Waldstück oberhalb des Örtchens Waldfisch war dieses Jahr Schauplatz gleich mehrerer großer Schlachten. Keine davon ging gut aus für die Fichte.

Das Unheil nimmt seinen Lauf, als am 18. Januar das Orkantief Friederike heranstürmt und Wurfschäden von mehreren zigtausend Festmetern Holz anrichtet. Dann, auf den Tag genau zwei Monate später, kündigt sich das Hochdruckgebiet Irenäus an. Mit Windstärke 4 eigentlich nur ein laues Lüftchen, nimmt es ausgerechnet hier, am Südwestabhang des Thüringer Waldes, durch eine meteorologische Besonderheit massiv an Fahrt auf. „Der Sturm hat wie ein Staubsauger innerhalb von wenigen Augenblicken auf Orkanstärke beschleunigt und dann vor nichts mehr haltgemacht”, erinnert sich Uth.

Die wachen Augen des hochgewachsenen 59-Jährigen wandern hin und her, landen schließlich auf einem Fichtenstumpf, der – entgegen der üblichen Fallrichtung bei Stürmen – nach Südwesten zeigt. „Irenäus kam aus Nordosten. Darauf sind die Bäume in ihrem Wuchs nicht eingestellt“, erklärt er. Es fallen so viele Bäume, dass hiesige Unternehmen bald nicht mehr in der Lage sind, der Holzmassen Herr zu werden. Uth engagiert Firmen aus einem Umkreis von 150 Kilometern, um im nun einsetzenden Wettlauf mit dem Borkenkäfer nicht den Anschluss zu verlieren.

Und doch: Es bleibt ein ungleiches Rennen. Denn auf die Stürme folgt der trockenste Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. „Die Fichten haben kein Tröpfchen Wasser mehr gefunden im Oberboden”, beschreibt Uth das Leiden der klimasensiblen Flachwurzler. Durch die Trockenheit stehen sie besonders unter Stress, haben nicht mehr genug Kraft, Harz als Abwehrstoff zu bilden. Verschärft wird die Situation durch ein Samenjahr, das zur Unzeit kommt. Als Ende April die Autos unter einer Schicht gelber Fichtenpollen verschwinden, ist es schon zu spät. Die Natur hat da längst entschieden, all ihre Energie in die Samenbildung zu lenken – und spricht so das Todesurteil für unzählige Fichten. „Ausgerechnet in einer Dürreperiode musste die Fichte ihre Kräfte für die Blüte und die Samenbildung aufbringen. In diesem Jahr war das tödlich”, erklärt Uth, während seine Stimme angemessen dramatisch von einer einsam durch den Wald kreischenden Kettensäge untermalt wird. Millionen von Borkenkäfern schwirren in diesem Sommer durch den Wald und finden auf den wehrlosen Fichten beste Fraß- und Vermehrungsbedingungen vor. So schafft es der Schädling auf drei statt nur auf zwei Käfergenerationen – die Größe der Population potenziert sich.

Die durch Stürme, Trockenheit und Borkenkäfer zerstörten Waldflächen summieren sich in den Revieren des Forstamts, die sich von der Hohen Rhön bis in den Thüringer Wald erstrecken, schon jetzt auf 240 Hektar; Jörn Uth rechnet damit, dass durch das weitere Wirken des Borkenkäfers am Ende 250 bis 300 Hektar aufzuforsten sind.

Mit großen Schritten stapft Uth jetzt den Hang hinauf. „Ich muss was tun. Ich muss hier wieder Wald hinbringen”, ruft der Forstamtsleiter, während er sich hinter das Steuer seines SUVs schwingt und über die Kisselstraße zur nächsten Schadfläche braust. Endlose Wälle aus Stämmen, sogenannte Holzpolter, säumen den gut gepflegten Forstweg. Fast wie Felswände wirken die bis zu vier Meter hohen Ungetüme, als sei die Fahrspur tief in den Berg gefräst worden. Sind sie bis Ende April nicht abtransportiert, muss begiftet werden, um den dann ausschwärmenden Käfern nicht erneut ein Festmahl zu bereiten. Doch noch immer arbeiten die Sägewerke am Anschlag, die Holzpreise fallen ins Bodenlose. ThüringenForst, die als Anstalt öffentlichen Rechts den Wald in Form von 24 Gemeinschaftsforstämtern managt, bereitet der übersättigte Holzmarkt große Sorgen, sie lebt fast ausschließlich vom Holzverkauf. Trotz angespannter Finanzlage müssen die Kahlflächen wieder bepflanzt werden – was Uth vor eine Grundsatzentscheidung stellt: Sparen, und den Bewuchs der Natur überlassen? Oder viel Geld in die Hand nehmen und die Reviere für die nächsten hundert Jahre zukunftsfest aufstellen?

Uth hält an und steigt aus seinem mittlerweile schlammfarbenen Fahrzeug. Ein Kolkrabe krächzt nachdrücklich, während Uths Blick den Horizont entlang wandert, in den von unten das zackige Muster endloser Nadelbäume ragt. „Wir können nicht darauf warten, dass uns die Natur hier wieder alles mit Fichten zuweht.“ Stattdessen sollen es Vogelkirsche, Lärche, Douglasie und dazwischen ein paar tiefwurzelnde Weißtannen richten. „Auch wenn uns die Bepflanzung viele tausend Euro pro Hektar kostet und jahrelange Pflege erfordert: Wir brauchen Mischwälder mit Baumarten, die den klimatischen Bedingungen, die auf uns zurollen, auch gewachsen sind.”